gaming: the system

Berlin, Kienzle Art Foundation

10. Mai ‒ 31. August 2019

Pauls Tanz: Der Boden trug Paul wieder. Sein Körper richtete sich auf. Die Maschine gab den Rhythmus an. (…) Das Bewusstsein verschwindet in der Monotonie der Bewegung. Der Hammer schlägt. Die Maschine treibt weiter. Sein Körper erreicht einen Entspannungszustand. Endorphinausschüttung. Er wird eins mit der Maschine. Er muss tanzen mit der Maschine. Er wäre immer der Verlierer, nur der Tanz ermöglicht ihm ein Entkommen mit ihr. (…) Totale Entspannung. Zeitlosigkeit. Bilder entstehen, die Räume öffnen sich; er ist jetzt körperlos, sein Bewusstsein fließt in jede Ritze, tastet Staubkörner ab, verfängt sich im Glanz des Stahls, schmiegt sich an die Maschine, kleine Schrauben werden liebkost, die Räume öffnen sich… (Josef Kramhöller [1])

 

 

Painting, Pop und Pathos

von Jens Bülskämper

 

„Das Ding ist noch nicht vorbei“, bemerkt der Maler Malte Frey im Gespräch über die Gemeinschaftsausstellung mit seinem Verbündeten, dem Malerkollegen Julian Reiser, und meint damit dieses Ding mit der Malerei, ihrem Kontext und all’ den Fragen, die sich ganz unmittelbar daraus ergeben. In den Galerieräumlichkeiten der Kienzle Art Foundation zeigen Malte Frey und Julian Reiser die Ausstellung gaming: the system, die im Titel sowohl die Aussicht auf zukünftige Abenteuer im Kunstbetrieb anklingen lässt als auch den Verweis auf malerische Spielarten enthält, die die beiden gemeinsam im Rahmen ihrer Zusammenarbeit entwickelt haben. Empfangen wird der Besucher vom Duft trocknender Ölfarbe und findet sich damit gleich in der Stimmungslage eines Studio Visits, eines Schulterblicks ins Atelier wieder. Wie um diesen Eindruck weiter zu untermalen, springt unmittelbar ein Remake des ikonischen Atelierbildes The Studio von Philip Guston aus dem Jahr 1969 ins Auge. Der hat in diesem von Frey und Reiser zitierten und variierten Gemälde allerdings Eric Fischls gleichermaßen berühmte Ikone amerikanischer Malerei der ausgehenden 1970er Jahre auf der Staffelei: einen onanierenden Jungen im Pool, der sich als Sleepwalker, so der Titel des Bildes von 1979, augenscheinlich unbeobachtet wähnend, im elterlichen Garten umtut und dabei den Betrachter unversehens zum Voyeur macht. Dieses kleinformatige Hybridbild, das zwei Lieblingsbilder der Maler Frey und Reiser verbindet und ein Element des gemeinschaftlichen Projektes Sisyphos Glücklich bildet, insinuiert bereits eine Reihe von Schwerpunkten der Schau – vom Studio bis zu den Körpersäften – und bildet so einen trefflichen Einstieg in die Ausstellung.

Malte Frey und Julian Reiser sind digital sozialisierte Maler und leidenschaftliche Computerspieler, womit sie an die großen Fußstapfen des verstorbenen Kollegen Michel Majerus erinnern, der 1996 und nur einen Steinwurf entfernt, die Schau Fertiggestellt zur Zufriedenheit aller, die Bedenken haben[2]zeigte. Ein Titel mit gleichsam universaler Geltung für das Debüt junger Maler, steckt in ihm doch die, keineswegs humorlose, Chuzpe, mit der es gilt möglichen Gegenwind, schlimmstenfalls das Desinteresse, angesichts einer just begonnenen Künstlerkarriere produktiv auszusitzen.

Wer Malerei betreibt, ist notwendigerweise immer auf den Schultern solcher Riesen wie Majerus und Guston unterwegs; auf diesen stehend will weiter gemalt und in diesen Vorbildern dürfen Verbündete erkannt werden. Gemeinsam im Medium der Malerei das eigene Tun befragen, erweitern, erfinden – dem Material das befriedigende Bild entlocken. „Ich rühre als Maler ja täglich im Matsch, das ist mein Beruf; und dann werde ich gefragt: was meinst Du denn damit, was soll das sein, warum machst Du das", bekundet Reiser, und Frey ergänzt: „Wir wollen eben malen. Das ist der Ausgangspunkt. Ich weiß, wie ich malen will und dann findet das Sujet zu mir, das dazu passt."

Die Herausforderung der Urheberschaft spielerisch zu unterlaufen, die einsame Ideenfindung im Studio dem Malerkollegen zu überantworten; dieses Konzept verfolgt das Gemeinschaftsprojekt Sisyphos Glücklich, um sich zumindest temporär des leidigen Begründungs- und Legitimationszwanges, der der reinen Malfreude schon mal im Weg stehen kann, zu entledigen. In 120 Aufgabenstellungen und den daraus resultierenden Kleinformaten befreien sie sich selbst zu glücklichen Handwerkern; der Auftrag, also die zu lösende Malerei-Aufgabe, wird vom jeweils anderen gestellt.

Dass dabei versucht wird, dem Kollegen das Leben schwer zu machen, kündet von einiger Selbstironie. Mit Aufgaben wie „Male Deinen Hinterkopf von schräg oben" und „Male dein schlechtestes Bild, das Du jemals gemalt hast, noch einmal“ oder auch „Kopiere ein Klaus Merkel Bild. Du hast 5 Minuten Zeit“ wird der andere gleichermaßen herausgefordert, wie handwerklich auf die Probe gestellt. Die Ergebnisse dieser Strategie nivellieren sich gegenseitig zur großen Malerei-Sause; die zahllosen durchgespielten Aufgaben und Sujets zeigen sich als potentiell unendlich fortsetzbar und betonen in ihrer spielerischen Beliebigkeit insbesondere den gemeinsamen Nenner: die malerische Bearbeitung. Von der Wand genommen, im immer gleichen Format von 29 x 24 cm, werden sie, eingefasst in ihr metallenes Display, symbolisch in Umlauf gebracht und egalisiert, ihre eigene Abhängigkeit vom Kontext mit ausstellend.

Ein zentrales Werk der Ausstellung ist fraglos Reisers 155 x 400 cm messendes Großformat Verbündete. Es begrüßt den Besucher gleich am Eingang der Schau, ist schon von außerhalb des Galerieraumes einsehbar, und gleichsam als Billboard für die beiden Malerkollegen und die Malerei selbst zu werben imstande; auch wenn es zufällig ebenso geeignet wäre, eine Charlottenburger Schwulensauna zu bewerben – in seiner Feier maskuliner Muskelpakete, aus deren frisch auf die Leinwände gedrückten braunen Würsten sich offensichtlich so einiges machen lässt und das sich in seinem arithmetischen Zentrum um einen kokett geöffneten Anus in leuchtendem Pink dreht. "Ein Bild über Würste aus Würsten", wie es Julian Reiser im Gespräch lakonisch kommentiert. Die Physis des Materials wird in dem Großformat regelrecht zelebriert: wie von einem riesenhaften Plotter wird die Farbe in pastosen Zeilen, der vergrößerten Rillenspur eines 3-D-Druckes nicht unähnlich, seriell auf den Malgrund aufgebracht. Diese Farbwürste formieren sich zu einer konspirativen Runde hockender, gleichsam wie Affen über ihren weißen Leinwänden brütenden Malern. Ihre ins Absurde gesteigerte Muskelkraft erscheint als Garant malerischer Handlungsmacht. Lässt sich da gar ein Seitenhieb auf die brodelnde Debatte herauslesen, die die notorisch männerdominierte Schlagseite des Kunstbetriebs, insbesondere im Hoheitsgebiet der einstigen Königsdisziplin, vielerorts überfällig aufmischt? Die selige Wurstigkeit der Verbündeten jedenfalls geriert sich als reine Männerdomäne; auf das Angebot eines derartigen Gemeinschaftsateliers verzichtete eine Frau vermutlich gerne.

Gegenüber dieses Breitwandformates findet sich in ähnlich düsterer Chromatik ein ebenso ambitioniertes Großprojekt Reisers, der dort in 16 Leinwänden The Frame Problem artikuliert. Ins Auge fallen spontan die figürlichen Szenen, am Rechner im 3-D-Programm Blender entworfen und dann in Ölfarbe auf die Leinwand übertragen. In diesem Transformationsprozess entstehen Fehler, die automatisch für eine Verschiebung zwischen der historischen Quelle und der digitalen Neuauflage sorgen und von Reiser absichtlich keine Korrektur erfahren. Was wie völlig aus der Zeit gefallen daherkommt, zeigt sich in seiner Genese am Rechner als um einiges heutiger, als der historisierende Look glauben macht. Das neckische Lichtspiel des Bildes zum Thema Lust, in dem ein wohlproportioniertes Paar, das auch den Ansprüchen eines Polyklet Genüge täte, sich frohlockend durch den Wald jagt, ist im 3-D-Programm bereits berechnet und eingeleuchtet worden, bevor es den Weg auf die Leinwand fand. Théodore Géricaults ikonisches Meisterwerk vom Anfang des 19. Jahrhunderts, Das Floß der Medusa, wurde sich ebenfalls angeeignet; es darf sinnfällig für den Hunger in Reisers malerischem Diskursrahmen stehen. Neben diesem Thema setzt er auch unter den Schlagworten Lust, Urteil und Untergang mit kunsthistorischen Referenzen versetzte Allegorien ins Bild, die zunächst bestens geeignet sind, die regressiven Retour à l’ordre Gelüste unumwunden zu bedienen, die in Krisenzeiten regelmäßig aufblühen und auf das Gute, Wahre und Schöne konservativer Prägung hoffen lassen.

Den allegorischen Figurationen stellt Reiser eine Reihe von Bildern zur Seite, die er von einer zweckentfremdeten CNC-Fräse malen lässt. Die entstehenden Gemälde lassen die Topoi Maschine und Malerei unvermittelt aufeinanderprallen und lösen damit ein Oszillieren zwischen Autorschaft und ihrer Negation aus, das zu faszinieren weiß. Letztlich leben alle derartigen Attacken, die die Malerei produktiv über sich ergehen lassen muss, von dem scheinbar besonders reißfest geknüpften Band zwischen Autor und Produkt, das die Malerei wie wenige andere Medien charakterisiert und geeignet ist, „vitalistischen Phantasien“ Vorschub zu leisten; insbesondere „wenn sie (die Gemälde) den Eindruck erwecken, über Subjektivität zu verfügen oder sich selbst gemalt zu haben“, wie Isabelle Graw argumentiert, die diesen Zusammenhang umfangreich erörtert hat.[3]

Auch ein noch so postauthentisches Bewusstsein vermag die Aura von Authentizität, die die Malerei zu vermitteln imstande ist, nur mit Mühe zu unterlaufen. Reiser schickt die gleichen Datensätze, die auch seinen figürlichen Remakes zugrunde liegen, an die CNC-Fräse, die sie dann in ein monochromes Impasto übersetzt. Die Maschine wird zur pinselführenden Hand und schiebt die Farbe gemäß das Datensatzes teilnahmslos über die Leinwand. Das Ergebnis vermag kaum noch an die digitale Bildquelle zu erinnern; vielmehr entsteht der Eindruck eines dekorativen Reliefs, das irgendeiner raffinierten Wandgestaltung entsprungen scheint.

Der von Reiser im Rahmenproblem in Stellung gebrachte Referentialismus verweist auf einen psychokünstlerischen Zusammenhang, den schon Benjamin Buchloh in seinem Essay Figures Of Authority, Ciphers of Regression von 1980 untersucht.[4]Buchloh sammelt in seiner Argumentation historische Beispiele, und findet derer zahlreiche, in denen Künstler wie Pablo Picasso, André Derain, Carlo Carrà, Gino Severini, aber auch Kasimir Malewitsch, Giorgio de Chirico und Christian Schad hinter ihre vormals entwickelten avantgardistischen, namentlich kubistischen, futuristischen, dadaistischen Innovationen zurückfallen und sich in einem plötzlichen Einschwenken auf eine tradierte Formensprache eines opportunen Konservatismus verdächtig machen.[5]Die kühnen Erfindungen garnierten dann als zahnloser Aufguss eben diesen Traditionalismus und erführen eine Wendung, die sie in ein Decorum für die Reichen und Mächtigen verwandele. Buchloh zitiert in diesem Sinne den französischen Kunstkritiker Maurice Raynal, der Picassos Three Musicians von 1921 als „rather like magnificent shop windows of cubist inventions and discoveries“[6]beschreibt.

Das einst für eine neu wahrgenommene Welt stehende und diese innovativ ins Bild setzende Formenrepertoire werde, laut Buchloh, seiner ursprünglichen Bedeutung enthoben, übrig bliebe lediglich eine „aesthetic commodity“ in einem „dysfunctional discourse“.[7]Diese entleerten Formen böten sich an, mit neuer Bedeutung überschrieben zu werden und einer Instrumentalisierung durch reaktionäre Interessen anheimzufallen: „Emptied of their historical function and meaning, they do not disappear but rather drift in history as empty vessels waiting to be filled with reactionary interest in need of cultural legitimation.”

Dass die Neucodierung eines einmal erfundenen Formenvorrates allerdings ein üblicher künstlerischer Habitus ist, spätestens seit der Inaugurierung der zeitgenössischen Kunst, so wie wir sie heute verstehen, also ab den 1960er Jahren, darf auch bei der Lektüre von Buchlohs These nicht vergessen werden. Die Versatilität künstlerischen Vokabulars bietet sich nicht nur der Umdeutung durch reaktionäre Interessen an, sondern kann gleichermaßen unter progressiven Vorzeichen in neue Kunstwerke eingehen. Ein sprechendes Beispiel für die kritische Indienstnahme eines Formenrepertoires aus dem Kanon der jüngeren Kunstgeschichte liefert der Künstler Santiago Sierra. Seine Paraphrasen auf die Minimal Art wenden deren blinden Fleck, ihr soziopolitisches Unbewusstes, in ein Display für gesellschaftspolitische Fragen im Gewand einer Kunst über Kunst; ein Zusammenhang den Georg Imdahl in seinem jüngst erschienenen Essay Ausbeute: Santiago Sierra und die Historizität der zeitgenössischen Kunst anschaulich bespricht.[9]       

Auf den ersten Blick lässt sich Reisers The Frame Problem als idealtypische Verkörperung einer Malerei lesen, die in dem von Buchloh argumentierten Sinne tauglich ist, als bourgeoises Dekor zu reüssieren. Der angemahnte Künstler-Opportunismus ließe sich womöglich auch Reisers zitatsatten Leinwänden unterstellen. Die allerdings zusätzlich eingebrachte Befragung der Autorschaft, wie Reiser sie betreibt, scheint diesen regressiven Backlash der Künste in Zeiten von Umbruch und Krise eher zu befragen, als lediglich für sich auszunutzen. Indem Reiser CNC-Fräsen mit Daten füttert und für sich in Dienst nimmt, ergänzt er das Bildprogramm des „Rahmenproblems“ um die Bedingungen der Verhältnisse, die aktuell die gesellschaftliche Machtverteilung prägen; namentlich eine Digitalisierung, die über Nacht ganze Branchen umwälzt, auslöscht, neu konfiguriert, Stichwort Disruption, und dabei neue Fürsten gebiert. Diese residieren heute im Silicon Valley und bilden eine nie dagewesene Machtkonzentration aus, die jedes historische Vorbild einer Bourgeoisie blass aussehen lässt. Bezogen auf Reisers Projekt ließe sich argumentieren, dass die herrschenden Verhältnisse sich hier ihre Bilder gleichsam selbst malen, Opportunismus und Kritik ununterscheidbar ineinanderfließen. Derart in den Blick genommen, verströmt The Frame Problem einen ambivalenten Groove, der als symptomatisch für das Lebensgefühl in Kunst und Leben heute gelten darf.

Die Welt digital generierter Bilder, wie sie in Computerspielen wie „Fallout 4“ zum Einsatz kommen, finden als Versatzstücke auch Eingang in die Malerei Malte Freys. Dessen Gemälde bilden das, wenn man so will, dritte Level neben der vielteiligen Gemeinschaftsarbeit und den düsteren, malereireflexiven Leinwänden Reisers. Frey zoomt ins Closeup der eigenen Nabelschau; zum Malanlass taugt, was seinen Alltag ganz unmittelbar bestimmt und dem Maler direkt vor Augen steht: die berauschenden Narrationen der Egoshooter-Games, eine Forschungsreise nach New York, die Residency in Schanghai – all das wird visuell ausgewertet und in eine fragmentarische Desktop-Landschaft gemalter Screenshots amalgamiert. Gewissermaßen poppen die Fenster im Bild auf, wie die Werbeformate von Webseiten, im Branchenjargon Pre-Rolls, Skyscraper oder Superbanner genannt und damit ihre Platzierung im Weblayout angebend. Im kritischen Blick auf den eigenen, scheinbar profanen Alltag eine Quelle zu entdecken, die auf relevante künstlerische Einsichten abgeklopft und malerisch produktiv gemacht werden kann, verbindet ihn mit Wahlverwandten wie dem Maler Gustave Courbet, der in seiner Individualität den Schlüssel zur Moderne entdeckte. 

Die in lockerem Strich hingeworfenen und an Ausschnitte aus Bilderzählungen erinnernden Szenen, werden flankiert von breiten, schwach deckenden Pinselzügen im Sinne einer konkreten Malerei. Dabei unterläuft die eine Bildsprache die jeweils andere und stellt sie in Frage. Frey probt auf diese Weise Malerei als Option und Varianz; es könnte immer auch ganz anders sein, das visuelle Patchwork sich immer neu generieren. Der derart eröffnete Möglichkeitsraum verspannt die Bildfenster der Reihe auch leinwandübergreifend in eine non-lineare Erzählung. Als Bild im Bild werden häusliche Szenen von größter Alltäglichkeit und Banalität dargestellt, die den Überlebenskampf der virtuellen Welten in unmittelbarer Nachbarschaft konterkarieren. Es wird im Bett gechillt, auf dem Smartphone gechattet – und Cut: Auf einen scharfen Bildschnitt durch die Ölfarbe folgen Szenen, in denen die beschossenen Targets in Flammen aufgehen. Zurück bleibt ein Gefühl von Ohnmacht und der Eindruck, dass es unter dem Kaleidoskop der Oberflächen brodelt; dass jederzeit alles passieren kann. Dem Künstler selbst verschwimmt der Blick zwischen der Virtualität und dem, was wir bis dato noch als davon differentes Real Life erleben. Ein Verhältnis komplementärer Kompensation drängt sich auf: Das krisengebeutelte Leben in existentieller Gefahr sucht womöglich den Eskapismus virtueller Idylle; ein gediegener Wohlstandsalltag beschwört die Lust am digitalen Nervenkitzel herauf.     

Die Valeurs der Farben zeigen sich ungebrochen, monochrom und ohne Modulation eingesetzt; ihre pastelligen Violett-, Türkis- und Gelbtöne, ergänzt durch Schwarz und Weiß, bilden eine Palette eigenwillig künstlicher Chromatik, die sich allzu leichter Konsumierbarkeit sperrt. Dazu passt eine wiederholt auftretende Schusswaffe im Anschlag; im typischen Point Of View Modus der Egoshooter und ganz im Zeichen des Titels der Serie: Avoidances of Death. Man ist geneigt, hier einen medienspezifischen Kommentar mitzulesen; die Marginalität des Mediums bringt den Maler womöglich in die Defensive und motiviert zur Selbstverteidigung.

Strahlen Querformate eher ein gemütliches Ruhen aus, sind Freys schmal angelegte Hochformate geeignet die Galeriewand zu rhythmisieren und unterlegen die Hängung mit einem narrativeren Beat im Sinne eines erst dieses, dann jenes und wieder zurück. Die Leinwände zeigen sich unruhiger, auch der Blick auf sie: Ruhelos wandere dieser zwischen Shooter und China durch die Realität des Malers, wie es Georg Imdahl unlängst formulierte.[10]Die schmale Streifenform drängt den malerischen Content zusammen und zwingt die Sujets ins Fragment. Auch erinnern die Hochformate ganz grundsätzlich an informationsgesättigte Medien: Plakate, Anzeigenformate sowohl on- als auch offline. Gerade in Berlin mag man auch an die mittlerweile sukzessive entfernten, historischen Litfaßsäulen denken, auf der sich die Poster und Informationen überlappen, wie die Fenster in Freys Bildern; außerdem betonen die Leinwände in ihrem anthropometrischen Maß die Beziehung zum Körper des Betrachters.

Immer wieder taucht eine X-Form als leitmotivische Setzung auf – eine Grundform, die Signet-Charakter hat und gleichermaßen imstande ist, als selbstgenügsame Form eine Funktion im Binnenkontext des Gemäldes als lediglich organisierendes Element zu übernehmen. Im erzählerischen Großformat des The Causa Sui Project hinterlegt die X-Form dann das Fadenkreuz des Schützen und ergänzt es zu einem abstrakten Bild im Bild, das im nimmermüden Gewühl der dynamischen Massenszene eine verschlüsselte Botschaft zu kommunizieren scheint.  

Ähnlich verhält es sich mit in dicker Ölfarbe applizierten Bubblegum-Formen, denen auf einigen Bildern Freys am malerischen (Spielfeld-)Rand eine Art visuelle Kommentarfunktion zukommt und die entfernt an asiatische Schriftzeichen erinnern, allerdings in eine Nichtlesbarkeit verunklärt wurden. Ein neckischer Kommentar auf das reflexartige Was-will-der-Künstler-uns-damit-sagen? Nun ja, was zu sehen ist, steht offensichtlich vor Augen – what you see is what you see, wie Frank Stella sagen würde; es ist demgemäß nur nicht in Sprache verfasst worden, sondern eben Malerei.

Diese von ihren konzeptuellen Rändern her zu betreiben und damit eine immer neue Perspektivierung des Mediums zu erzielen, schließt die Malerei von Malte Frey und Julian Reiser mit den ertragreichsten Diskursfeldern kurz, die das Medium aktuell zu bieten hat.

 

 

[1] Josef Kramhöller: Genuss, Luxus, Stil. Sstems -ideological milieu, Köln, Berlin: Permanent Press Verlag, München 1999, S. 33.

[2] Michel Majerus: Fertiggestellt zur Zufriedenheit aller, die Bedenken haben, Galerie neugerriemschneider, Berlin 1996.

[3] Isabelle Graw: Die Liebe zur Malerei. Genealogie einer Sonderstellung, Zürich: Diaphanes, 2017, S. 22-24.

[4] Benjamin Buchloh: Figures of Authority, Ciphers of Regression: Notes on the Return of Representation in European Painting, in: October, Vol. 16, Art World Follies, 1981, S. 39-68.

[5] Ebd., S. 42

[6] Ebd., S. 44

[7] Ebd., S. 44

[8] Ebd., S. 55

[9] Georg Imdahl: Ausbeute. Santiago Sierra und die Historizität der zeitgenössischen Kunst, Hamburg: Philo Fine Arts, 2019.

[10] Georg Imdahl über Malte Freys Werkgruppe Avoidances of Death anlässlich Freys Examensausstellung in der Kunstakademie Münster im Oktober 2018, Jahrbuch der Akademie, Bönen: Kettler, 2018, S. 104.

Ausstellung mit:
gezeigte Arbeiten:
Lust, Öl auf Baumwollgewebe, 180 x 150 x 1,5 cm, 2018
Slaves, Öl auf Baumwollgewebe, 180 x 150 x 1,5 cm, 2018
Urteil, Öl auf Baumwollgewebe, 180 x 150 x 1,5 cm, 2018
Kingbrown, Öl auf Baumwollgewebe, 180 x 150 x 1,5 cm, 2018
Hunger, Öl auf Baumwollgewebe, 180 x 150 x 1,5 cm, 2018
Spiegelbild Bild, Öl auf Baumwollgewebe, 180 x 150 x 1,5 cm, 2018
Untergang, Öl auf Baumwollgewebe, 180 x 150 x 1,5 cm, 2018
Scylla und Charybdis, Öl auf Baumwollgewebe, 180 x 150 x 1,5 cm, 2018
Prozessor, Öl auf Baumwollgewebe, Holzrahmen lackiert, 100 x 100 x 1,5 cm, 2018
Maschinenbild Hunger, Öl auf Baumwollgewebe, 100 x 100 x 1,5 cm, 2018
Schmierbild Slaves, Öl auf Baumwollgewebe, 100 x 100 x 1,5 cm, 2018
Maschinenbild König, Öl auf Baumwollgewebe, 100 x 100 x 1,5 cm, 2018
Maschinenbild Fiat, Öl auf Jute, 100 x 100 x 1,5 cm, 2018
SchmierbildBandelwerk, Öl auf Baumwollgewebe, 100 x 100 x 1,5 cm, 2018
Schmierbild Untergang, Öl auf Baumwollgewebe, 100 x 100 x 1,5 cm, 2018
Maschinenbild seltsame Schleifen, Öl auf Baumwollgewebe, 100 x 100 x 1,5 cm, 2018

Sisyphos glücklich, 5 Gestelle aus lackiertem Stahl, 72 x 238 x 34 cm mit jeweils 24 Bildern, 29 x 24 cm

Verbündete, Öl auf Baumwollgewebe, 400 x 150 x 1,5 cm, 2019